32

In einem meiner Telefongespräche mit Doc hatte er diese prophetischen Sätze geäußert: Er gibt sich die allergrößte Mühe bei seinen Verbrechen, bereitet raffinierte Verkleidungen und detaillierte Inszenierungen vor – das alles scheint lächerlich und irrsinnig zu sein. Aber hier geht es ausschließlich um Kontrolle, und genau dadurch erreicht Durand sie. Kontrolle ist das Allerwichtigste für ihn. Das ist sie oft für eine Person, die in Umständen aufwächst, auf die sie kaum oder keinen Einfluss hat; aus dem, was diese Freundin der Familie erzählte, wissen Sie ja, wie es für ihn im Carmichael-Haushalt lief. In seinem ganzen Erwachsenenleben hat Wilbur Durand versucht – wie so viele andere seiner erbärmlichen Sorte auf ihre eigene kranke, entsetzliche Art –, ein völlig kontrollierbares Leben zu erschaffen, in dem alles genau nach seinem Geschmack geordnet und strukturiert ist.

Ansonsten kann er sich nicht sicher fühlen. Keine Minute lang.

Das ging mir durch den Kopf, während ich mich darauf vorbereitete, den Mann zu fangen, der absolute Kontrolle über die Jungen ausübte, die er entführte, diese makellosen Leinwände, die er für seine perverse Kunst benutzte, die Verkörperungen seines jüngeren Ichs in den Händen seines Onkels Sean. Er zerstörte sein eigenes Gefühl der Hilflosigkeit, indem er es in den Jungen neu erschuf und sie dann zerstörte. Er war ein Machtbesessener mit der fixen Idee, sich seine verlorene Kindheit zurückzuholen, und im Augenblick hatte er Macht über jemanden, der meinem Sohn wichtig war.

Und deshalb hatte er Macht über mich. Aber nicht mehr lange.

Überall um mich herum herrschte hektische Aktivität. Wir waren fast fertig zum Aufbruch, als ein Anruf von der Vermittlung kam. Spence hob ab.

»Für wen?«, hörte ich ihn fragen.

Er horchte kurz zu und gab dann mir den Hörer.

Unten wartete eine Einkaufstüte mit einem Paar blauer Nikes.

»Innen drin sind Initialen – J.S.«, sagte die Telefonistin. »Aber Moment mal, da ist auch eine Nachricht.«

Durchs Telefon hörte ich Papier rascheln.

»Was soll denn das? Hier steht nur drauf: Aber ziehen Sie Ihre Schuhe aus, bevor Sie ins Haus kommen.«

»Was ist?«, fragte Spence.

»Er hat ihn im Haus. Ich hatte mir gedacht, dass er ins Studio fahren …«

»Okay, dann fahren wir also da hin«, sagte Escobar. Man konnte das Adrenalin förmlich in seiner Stimme riechen; wir alle schwitzten das Zeug aus. Unser Training und unsere Berufspraxis, all die Übungen zu Verfahrensweisen und Materialeinsatz – das alles bekam nun plötzlich einen Sinn. Die Rituale des Kampfes, auf die man jeden von uns getestet hatte, würden nun selbst getestet werden. Letztendlich würde unser Erfolg nur von unserem Willen abhängen – wenn der Wille zum Sieg da war, würden Fähigkeiten und Hilfsmittel funktionieren wie beabsichtigt. Alles stand und fiel mit unserer mentalen Verfassung. Wieder einmal wurde ich zur Jägerin im Löwenfell, doch diesmal war ich umgeben von gleich gesinnten Jägern. Wir hatten unsere Speere geschärft. Wir setzten uns mit den Speeren in der Hand in Marsch. Wir waren hungrig.

Wir würden fressen.

 

Jeffs Turnschuhe waren eine gravierte Einladung. Komm und hol mich, sagten sie.

Mein Herzschlag beschleunigte sich, als wir durch die Straßen des unteren Brentwood fuhren. Bäume und Zäune wischten vorbei und hinterließen vor meinem geistigen Auge Farbspuren wie auf einem lange belichteten Straßenfoto bei Nacht; Hunde bellten in Zeitlupe. Das Aufklatschen eines Insekts auf der Windschutzscheibe klang wie eine Pfahlramme. Während Spence fuhr, versuchte ich, mir den Grundriss des Hauses in Erinnerung zu rufen.

Denken, denken, denken. Vorausahnen, was er tun würde. Letztendlich konnte ich nur zu einem Schluss kommen.

»Er muss ihn in seinem Atelier zu Hause haben. Dorthin müssen wir zuerst.«

»Wie kommst du darauf?«

»Weil der Kerl ein Kontroll-Freak ist und nirgendwo sonst im Haus diese Art von Sauerei veranstalten würde.«

Dieser Raum war durchsucht worden, als wir zum ersten Mal im Haus waren, da er aber am Ende des Ganges lag, war er als letzter drangekommen. Und als wir die Bänder in seinem Studio entdeckten, wurde das Haus zur Nebensache, die Durchsuchung des Ateliers geschah also höchst flüchtig.

»Wenn wir uns nur diesen Raum besser angeschaut hätten.«

»Wir müssen eben auf alles gefasst sein«, sagte Spence. »Es wird schon gut gehen.«

»Meinst du.«

»Ja.«

Verhören konnte er besser als lügen.

Häuser rauschten vorbei, als wir in die Hügel hochfuhren. Ich betete, dass Spence Recht behielt.

Als wir ankamen, war die Straße verstopft mit so ziemlich jedem Streifenwagen der Polizei von Los Angeles – so kam es mir zumindest vor. Das Tor, durch das der Boy zuvor mit seinem Auto gefahren war, war wieder verschlossen. Ein ziviles Überwachungsfahrzeug stand noch vor dem Nachbarhaus, war aber jetzt versteckt hinter zwei Reihen blauer Blinklichter. Hinter dem hohen Zaun lag die moderne Festung, in dem der Verrückte mit einem Jungen in seiner Gewalt, den er für meinen Sohn hielt, lauerte. Auf mich. Alle anderen waren für ihn ohne Bedeutung.

Escobar war aus dem Auto und wühlte im Kofferraum, bevor ich es so recht mitkriegte; dann tauchte er mit einem Bolzenschneider wieder auf. Er lief entschlossen auf das Tor zu und hatte das Schloss aufgebrochen, bevor ich ganz ausgestiegen war.

Wir rannten durch das Tor und die Auffahrt hoch. Ein Ziegelweg, den ein gewölbter Baldachin überspannte, führte von der Fahrbahn zur Haustür. Unter der dunkelgrünen Leinwand stand ein uns unbekannter junger Mann, nach der Kleidung zu urteilen ebenfalls eine Art Bediensteter. Wie der Boy trug er eine weiße Hose und ein kurzärmeliges Hemd. Er trug aber außerdem noch eine Fliege.

Ich blieb stehen und zog meine Waffe. Spence kam bis auf Flüsterdistanz heran.

»Hast du den Knaben schon mal gesehen?«, fragte er von hinten.

Ich schüttelte den Kopf und setzte mich wieder in Bewegung. Die Waffe hielt ich auf den unbekannten neuen Mitspieler gerichtet.

Das arme Schwein zitterte. Die anderen blieben ein paar Schritte zurück, während ich den Weg hochging – die Zeit, da ich immer die Nachhut gebildet hatte, war vorbei. Mit jedem Schritt, den ich machte, wurden die Augen des Jungen größer vor Angst. Kurz vor dem Leinwand-Vordach blieb ich stehen und zielte mit der Waffe auf sein Gesicht.

»Heben Sie die Hände, und kommen Sie die Treppe herunter«, befahl ich. Sichtbar zitternd trat er zuerst mit einem Fuß herunter, dann mit dem anderen.

»Kommen Sie näher«, sagte ich.

»Vorsicht, Lany«, hörte ich Escobar rechts hinter mir sagen.

»Immer«, erwiderte ich leise.

Und dann tat ich etwas, das jeden überraschte, vor allem den Jungen. Ich spuckte mir auf die Finger meiner linken Hand und rieb mit meinem Speichel an seinem Gesicht, während ich ihm die Waffe dicht vors Gesicht hielt.

»Lany, mein Gott …«, hörte ich Spence sagen.

»Ich will nur sichergehen, dass es echte Haut ist.«

Der zitternde Junge war bleich wie ein Gespenst und stumm.

»Wo ist Wilbur Durand?«, fragte ich.

Er schüttelte heftig den Kopf. »Ich weiß es nicht«, sagte er.

»Haben Sie vor ungefähr einer Stunde ein Paar Turnschuhe in die Abteilung Verbrechen gegen Kinder gebracht?«

»Nein, das habe ich nicht.« Er sprach mit leichtem Akzent, möglicherweise hispanisch.

Die Waffe war noch immer auf sein Gesicht gerichtet. »Haben Sie heute Morgen Lebensmittel ins Studio Ihres Chefs geliefert?«

Seine Augen wurden noch größer, und er schüttelte noch einmal den Kopf. »Aber ich habe vor einer Weile gehört, wie das Garagentor auf- und wieder zuging.«

»Wann?«

»Ich weiß es nicht mehr.«

»Ungefähr?«

»Am frühen Nachmittag, vielleicht um …«

Ich unterbrach ihn. »Kam jemand oder fuhr jemand weg?«

»Das habe ich nicht gesehen. Ich war in der Küche. Es gibt so viele Möglichkeiten, das Haus zu betreten und zu verlassen.« Er zögerte kurz und sagte dann: »Man sagte mir, dass er sich nicht gern stören lässt. Also störte ich ihn nicht.«

Er hatte Angst; aus ihm würden wir nichts Vernünftiges mehr herausbringen, und die Zeit lief uns davon. »Gehen Sie den Weg entlang und stellen Sie sich den Beamten, die dort unten warten«, befahl ich.

Er nickte eifrig und setzte sich in Bewegung. Den Blick starr auf den Lauf meiner Waffe gerichtet, drückte er sich mit noch immer erhobenen Händen an mir vorbei. Er lief einem uniformierten Beamten praktisch in die Arme.

Ich drehte mich zur Tür um und starrte ins dunkle offene Maul der unergründlichen Bestie, die Jeff Samuels verschluckt hatte. Halt aus, Jeff, nur noch ein paar Augenblicke, ich komme dich holen …

Ich legte die zweite Hand an die Waffe, die plötzlich hundert Pfund zu wiegen schien. Spence und Escobar waren direkt hinter mir, als ich durch die offene Tür trat; Escobar wollte an mir vorbei und vorausgehen, aber ich streckte den Ellbogen aus, um ihn zurückzuhalten. Draußen hörte ich Schritte – die anderen Beamten umstellten das Haus. Licht blinkte durch die Jalousien herein; die ganze Straße war erleuchtet. Das Krächzen der Funkgeräte war ohrenbetäubend. Falls Durand drinnen war, wusste er jetzt sicher, was wir wollten.

Gut. Es wurde langsam Zeit, dass er Angst bekam.

Auf mich wirkte alles sehr unwirklich; ich funktionierte rein instinktiv – in einem Augenblick Mutter, im nächsten Polizistin, manchmal beides gleichzeitig. Direkt vor mir lag das Wohnzimmer, der orangefarbene Schein des Abendhimmels drang durch das große Fenster, das in den hinteren Garten hinausging. Während ich mich den Gang entlangarbeitete, spähte ich kurz in jedes Zimmer und lauschte mit den Ohren eines Fuchses.

Und dann hörte ich hinter einer geschlossenen Tür gedämpfte menschliche Stimmen. Spence und Escobar, die noch immer direkt hinter mir waren, schienen sie auch zu hören, denn plötzlich waren alle unsere Waffen auf die Türmitte gerichtet. Wir standen still da und lauschten angestrengt.

Vom Grundriss her wusste ich, dass links und rechts des Ateliers jeweils ein Schlafzimmer lag. Was ich nicht wusste, war, ob es zwischen diesen Räumen Verbindungstüren gab. Ich flüsterte »Türen« und deutete mit dem Kopf in beide Richtungen. Beide verstanden sofort. Spence ging nach links und Escobar nach rechts, um nachzusehen.

Kaum waren sie gegangen, zeigte sich unter der Tür ein dünner Streifen sehr hellen Lichts, und dann hörte ich eine Männerstimme: »Action …«

Es waren Arnold Schwarzenegger, Clint Eastwood und Charles Bronson – zu einer Person vermengt. Ich trat die Tür ein, machte einen Satz und rollte mich ab und kauerte dann mit ausgestreckter Waffe auf dem Boden.

Jeff, wir sind da, wo bist du …

Und da war er, auf der rechten Seite: gefesselt und geknebelt, und auf seinem Bauch war Blut. Mein erster Instinkt war, zu ihm zu stürzen, aber aus dem Augenwinkel heraus sah ich eine Bewegung. Ich schaute nach links – das Licht war sehr schlecht –, und da stand Wilbur Durand, aber diesmal als er selbst, nicht als Boy.

Eine Kamera war auf Jeff gerichtet, und dahinter stand das Monster, das offensichtlich die grausige Szene abfilmte. In einer Hand hatte er einen dunklen Gegenstand, der aussah wie eine Waffe. Er hob den Arm langsam und sehr stetig.

Zu stetig.

Was sah ich da wirklich? Ich wusste es nicht. Und ich hatte keine Zeit, hinzugehen und es mir genauer anzuschauen. Aber die Bewegungen waren zu präzise, zu mechanisch, zu unmenschlich. Hinter mir riefen Escobar und Spence, sowohl untereinander wie zu mir, und wir alle drei versuchten zu verstehen, was wir da vor uns hatten.

Genau nach Vorschrift, genau nach Vorschrift, mach es genau nach Vorschrift – das war die oberste Direktive aller unserer Einsätze. Deshalb schrie ich: »Polizei, Waffe fallen lassen«, und hoffte unlogischerweise, dass es funktionieren würde wie beabsichtigt. Aber der Arm hob sich weiter.

Ich hasste, was die Vorschrift mir als Nächstes befahl, aber ich hatte keine andere Wahl. Ich richtete meine Waffe auf Durands Kopf und drückte den Abzug.

Überall in dem kleinen Zimmer waren Rauch und fliegende Teile. Aber irgendetwas stimmte nicht, ganz und gar nicht – kein Blut, keine Hirnsubstanz, nur ein Regen funkelnder Splitter. Der Arm stieg nicht mehr weiter, aber anstatt herabzufallen, wie er es hätte tun sollen, als der Kopf zerplatzte, blieb er in seiner Position, erhoben in einem Winkel von etwa fündundvierzig Grad.

Als das Echo des Schusses schließlich verhallte, hörte ich nur zwei Geräusche: meinen eigenen rasenden Herzschlag und ein leises elektronisches Summen, als wäre eine Maschine mitten in einer Bewegung stecken geblieben und könnte die nächste nicht mehr ausführen.

Ich konnte meine schwere Waffe nicht länger halten, mein Arm sank herab, und ich richtete mich auf. Als ich langsam auf mein Opfer zuging, knirschten Plastikteilchen unter meinen Sohlen. Neben dem Korditgeruch des Schießpulvers roch ich verschmortes Vinyl.

»O Gott«, sagte ich, als ich meine Hand auf die Schulter des Dings legte.

Ich hatte soeben einen animatronischen Wilbur Durand erschossen. Deshalb lief ich zu Jeff – zumindest dachte ich, es wäre Jeff, aber es war auch nur eine Puppe, die aussah wie er. Eine Puppe, der die Gedärme herausquollen.

Ich war nicht auf das vorbereitet, was dieser Anblick bei mir auslöste. Alles, und ich meine wirklich alles, wurde scharf und klar. Es sah alles so echt aus, so perfekt. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, eine grausige Grimasse. Spence stürzte an mir vorbei. Ich glaube, ich hatte ihn noch nie so fluchen gehört.

»Toller Schuss«, sagte er. »Aber jetzt schnappen wir uns den Echten.«

Die Schreckenskammer
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